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Geh aus mein Herz (Susanne Reich)

Dieser wohl bekannteste Choral des großen Lieddichters und lutherischen Pfarrers Paul Gerhardt wird in diesen Tagen wieder häufig angestimmt. Ich habe ihn schon als Kind in der Schule gelernt, und selbst manche schwer demenzkranken Menschen im Seniorenheim summen ihn im Gottesdienst noch mit. So vertraut ist er Vielen. Ein Choral, der Menschen über Jahrhunderte im Innersten bewegt hat. Ein Choral, etwa in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges entstanden. Verwüstete Landschaften wird Paul Gerhardt vor Augen gehabt haben, Tod Seuchen, Hunger, zerstörte Städte, menschliches Elend. Vier seiner fünf Kinder starben bereits im Kindesalter. Und dennoch schreibt er solche Verse, beschreibt blühende Landschaften, Gottes Schöpfung in all ihrer Schönheit. Wie ein sommerlicher Spaziergang kommt mir das Lied vor. Völlig sorglos scheint es, als gäbe es nichts, was die Idylle stören könnte. Aber für den Dichter geht es letztlich nicht um eine Bilderbuchidylle, die all das Schwere und Dunkle im Leben ausblenden will. Er hat die Welt vor Augen, eine grausame und leidvolle, und setzt ihr Gottes großes Dennoch entgegen, Gottes andere Wirklichkeit, die sich in der Schönheit der Schöpfung widerspiegelt und uns daran erinnert, wie Gott diese Welt im Ursprung gewollt hat.

Wenn man diesen alten Choral auf dem Hintergrund der Realität betrachtet, in die hinein er geschrieben wurde, dann wird darin doch die Widersprüchlichkeit unserer Wahrnehmung der Welt deutlich. Und das heute vielleicht weitaus mehr als im 17. Jahrhundert. Was ist Wirklichkeit? Die Schönheit der Natur an einem Frühsommermorgen im Wald, oder die Berichte über den drohenden Klimawandel und damit verbundene Naturkatastrophen? Die Straßenkinder am Hauptbahnhof, die sich verkaufen, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren, oder die Familienidylle im eigenen Garten ? Das englische Küstenstädtchen im Rosamunde-Pilcher-Film oder das zerstörte Bagdad? Während manche Menschen im Internet schon ein „second life” führen, brauchen andere die Super-Nanny oder den Schuldnerberater vom Fernsehen, um überhaupt im Alltag zurechtzukommen. Was ist mein Bild von Wirklichkeit im Medienzeitalter? Vielleicht hatte Paul Gerhardt es zumindest in dieser Hinsicht leichter als wir. Nein, ihm geht es nicht darum, der bitteren Realität zu entfliehen, in eine Bilderbuchidylle. In seiner Schau der Natur will er Trost spenden, ermutigen, Menschen auffordern, nicht zu resignieren, in Bewegung zu kommen, Kraft zu tanken, um dieser Welt, so wie sie nun mal ist, Gottes großes Dennoch entgegenzusetzen. Und ich würde dem noch hinzufügen: Sie wieder, Stück für Stück, zu verwandeln in eine Welt, wie Gott sie im Ursprung wollte. Geh aus, mein Herz …

Ihre Pastorin Susanne Reich